Leihen Sie uns Ihr Ohr
Die Zahl der Menschen, für die Gerichte einen rechtlichen Betreuer bestellen, ist seit dem Jahr 2000 in Deutschland um 30 Prozent gestiegen – auf aktuell rund 1,3 Millionen Menschen. „Der Bedarf an rechtlicher Betreuung wird in den nächsten Jahren noch deutlich zunehmen“, so Heike Deimel vom Diözesan-Caritasverband Paderborn. Grund sei neben der demografischen Entwicklung die steigende Zahl von Single-Haushalten. Besonders auffällig ist die Häufung „schwieriger Fälle“, wie die 29 katholischen Betreuungsvereine im Erzbistum Paderborn (über 6600 Betreute) übereinstimmend feststellen. Dazu zählen insbesondere Personen, die psychisch krank oder drogenabhängig sind.
Doch für zeitaufwändige Betreuungen ist das seit 2005 geltende Finanzierungsmodell nicht ausgelegt. „Nur zu deutlich ist spürbar, dass die vom Gesetzgeber vorgesehene Zeitpauschale den Bedürfnissen und Nöten der Betreuten längst nicht mehr entspricht“, erklärt Heike Deimel. Gerade für Betreuungsvereine, die sich in der Regel langfristig um Betroffene kümmerten, hat sich dieses Modell mit seinen fixen Zeitpauschalen als Falle erwiesen. Die Folge: 80 Prozent der katholischen Betreuungsvereine schreiben inzwischen rote Zahlen. „Das vom Gesetzgeber gewollte System der Betreuungsvereine steht vor dem Kollaps“, kritisiert Christoph Eikenbusch, Abteilungsleiter im Diözesan-Caritasverband. Für einen längerfristig Betreuten stehen beispielsweise nach diesem Modell ca. zwei Stunden Zeit pro Monat zur Verfügung. „Nur ein einzelner Besuch bei dem Betroffenen dauert inklusive Fahrtzeit schon ungefähr so lange“, sagt Heike Deimel. Kommen dann noch Behördenangelegenheiten dazu, sei die Zeit schnell überschritten. Auch in ländlichen Bereichen würden die zwei Stunden aufgrund der langen Anfahrtswege ebenfalls schnell überschritten.
„Rechtliche Betreuung soll nach dem Willen des Gesetzgebers mehr sein als das Verwalten des Taschengeldes“, betont Christoph Eikenbusch. Die aktuellen Rahmenbedingungen wiesen allerdings genau in diese Richtung. In der Praxis seien die Träger aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, immer mehr Betreuungen zu übernehmen. „Dies kann aber keine Perspektive für eine respektvolle, den Menschen zugewandte Betreuung sein.“ Nicht nur die berufliche Betreuung ist in Gefahr. Auch für die Gewinnung und Beratung von Familienangehörigen und ehrenamtlichen Betreuern gewähren die meisten Bundesländer, insbesondere NRW, den Betreuungsvereinen keine ausreichende Förderung.
Grund genug für die katholischen Betreuungsvereine, Alarm zu schlagen. In einer gemeinsamen Aktion von Caritas und Sozialdienste katholischer Frauen und Männer suchen die Verbände und Betreuungsvereine in diesen Tagen das Gespräch mit zuständigen Bundes- und Landtagsabgeordneten. Im Erzbistum Paderborn startet zusätzlich die Aktion „Leihen Sie uns Ihr Ohr“. Dabei haben Betreuer und Betreute die Möglichkeit, über ihre Situation zu berichten. In Form von besonders gestalteten Karten sollen Schicksale von Betroffenen sowie die Arbeit der Betreuer gesammelt und später öffentlichkeitswirksam präsentiert werden. „Kaum eine Personengruppe wird so wenig wahrgenommen, wie die unter rechtlicher Betreuung stehenden Menschen“, begründet Eikenbusch diese Initiative. Die Aktion „Leihen Sie uns Ihr Ohr“ möchte daran etwas ändern.