Seit einem Jahr leitet Felicitas Kniesburges die Bahnhofsmission Paderborn. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Volker Hillebrand erlebt sie täglich, wie groß die Not vieler Menschen geworden ist: Wohnungslosigkeit, Altersarmut, Einsamkeit und der Kampf ums tägliche Überleben prägen die Realität vor der Tür der Bahnhofsmission. Im Interview spricht Kniesburges über steigende Besucherzahlen, die Bedeutung von Spenden gerade zu Weihnachten, die Herausforderungen ihres Teams und darüber, warum die Bahnhofsmission für viele der einzige Ort ist, an dem sie Wärme, Zuwendung und ein Stück Hoffnung finden.
Frau Kniesburges, Sie sind nun seit einem Jahr Leiterin der Bahnhofsmission. Was hat Sie in dieser Zeit am meisten bewegt - sowohl positiv als auch herausfordernd?
Felicitas Kniesburges leitet die Bahnhofsmission Paderborn. Notleidende erhalten in dem kleinen Gebäude am Ende von Gleis 1 Hilfe und Unterstützung. (Foto: cpd/Markus Jonas)
Felicitas Kniesburges: Die Bahnhofsmission und auch viele unserer Gäste waren mir nicht unbekannt. Ich habe früher Straßensozialarbeit gemacht, war von 1985 bis 1990 mit die erste Straßensozialarbeiterin hier in Paderborn. Deshalb ist mir der Personenkreis im Grunde vertraut. Besonders bewegt hat mich, wie viele Menschen zu uns kommen und wie unterschiedlich ihre Problemlagen sind: von Wohnungslosigkeit über drohenden Wohnungsverlust bis hin zu Altersarmut. Mich hat erschüttert, wie groß der Kreis der Betroffenen geworden ist - besonders viele ältere Menschen, die jetzt verstärkt hierherkommen und sich gerade im Winter bei uns aufhalten. Auch viele Frauen, häufig vermutlich alleinerziehende, suchen bei uns Hilfe. Und zeitweise kamen auch viele junge Menschen, was sich inzwischen aber wieder etwas verringert hat. Besonders beschäftigt hat mich das Ausmaß der Altersarmut und die Not von alleinerziehenden Frauen.
Hat diese intensive Arbeit Ihren eigenen Blick auf Armut, Einsamkeit und Wohnungslosigkeit verändert?
Felicitas Kniesburges: Ja, auf jeden Fall. Ich denke sehr oft darüber nach. Erst gestern habe ich mit unserem Praktikanten darüber gesprochen, wie froh wir sein können, dass es uns gut geht. Ich sage ganz ehrlich: Ich bin froh, dass ich nie in eine solche Situation geraten bin - denn das kann jedem passieren. Wenn ich über Wohnungslosigkeit nachdenke, wird mir manchmal regelrecht anders. Ich möchte nicht darüber nachdenken, wie es wäre, auf der Straße schlafen zu müssen. Menschen, die wirklich obdachlos sind, schaffen das nur, weil sie Unterstützung bekommen - durch Orte wie unsere Bahnhofsmission, wo sie sich morgens aufwärmen können, wo es warmes Essen gibt, Gespräche, Kleidung und ein wenig Hoffnung.
Volker Hillebrand: Ich beobachte, dass manche Menschen durchaus auch aus Fahrlässigkeit abrutschen, andere schaffen es irgendwann einfach nicht mehr, weil sie zu viele Probleme haben und überfordert sind. Oft kommen Suchtkrankheiten hinzu. Wir begleiten auch Menschen, die Methadon bekommen; im Sommer waren es deutlich mehr als jetzt, aktuell etwa fünf oder sechs. Einige sitzen zeitweise auch im Gefängnis wegen Schwarzfahrens oder anderer kleinerer Delikte, weil sie ihr Leben nicht in den Griff bekommen.
Gibt es ein Beispiel, das Sie besonders berührt hat und bei dem Sie dachten: "Dafür mache ich diese Arbeit"?
Felicitas Kniesburges: Das erlebe ich fast täglich. Wenn ich durch die Stadt gehe, sehe ich Menschen, die in Hauseingängen schlafen - gerade bei diesem Wetter. Menschen liegen bei Lidl unter dem Vordach, um etwas Schutz zu haben. Wenn ich das sehe, macht mich das betroffen. Diese Menschen gehen jeden Abend wieder an dieselben Plätze zurück. Und tagsüber sehe ich Menschen, die in dicken Jacken und Decken eingehüllt irgendwo sitzen. Mein Eindruck ist, dass die Zahl der Hilfebedürftigen zugenommen hat.
Volker Hillebrand: Als ich im Jahr vor Corona in der Bahnhofsmission anfing, war der Betrieb normal - vielleicht 50 Menschen am Tag. Heute sind es bestimmt 200 am Tag. Manchmal stehen schon 20 Personen vor der Tür, wenn wir um kurz vor sieben kommen. Aufgemacht wird aber erst um halb neun, weil wir vorher Brötchen holen und alles vorbereiten müssen.
Im vergangenen Jahr war auch die Nachfrage nach den Weihnachtstaschen enorm, die Sie jährlich im Anschluss an einen adventlichen Gottesdienst an Bedürftige verteilen. Wie ist die Situation in diesem Jahr?
Felicitas Kniesburges: Auch in diesem Jahr waren die Gutschein-Karten für die Taschen sehr schnell vergeben. Wir hätten noch deutlich mehr Karten gebrauchen können als die 120, die wir verteilt haben. Jede Tasche kostet 40 Euro. Edeka Windmann spendet uns übrigens auch sonst jeden Dienstag Lebensmittel, die ein Ehrenamtlicher für die Bahnhofsmission abholt.
Sie geben täglich Brötchen und Kaffee in der Bahnhofsmission aus. Welchen Umfang hat das?
Felicitas Kniesburges: Wir kochen inzwischen täglich etwa 40 Liter Kaffee. Wir haben uns Anfang des Jahres endlich eine Industriekaffeemaschine anschaffen können. Früher haben wir mit kleinen Haushaltskaffeemaschinen diese Mengen gekocht - das war Wahnsinn. Heute kochen wir morgens direkt sechzehn Liter und wiederholen das mehrmals am Tag. Was die Brötchen betrifft: Es kommt darauf an, was an Spenden reinkommt. Heute hatten wir vier Kisten von der Bäckerei Lange - das sind etwa 300 Brötchen.
Kümmern sich um die Sorgen und Nöte der Besucher der Bahnhofsmission: die hauptberuflich Tätigen Felicitas Kniesburges (links) und Volker Hillebrand (rechts) sowie Nahid Mizanazy und Basri Isik, die gemeinsam mit anderen Ehrenamtlichen in ihrer Freizeit in der Bahnhofsmission arbeiten. (Foto: cpd/Markus Jonas)
Volker Hillebrand: Oft bekommen wir sogar noch mehr, auch Brot, Fladenbrot oder Burgerbrötchen. Zusätzlich bekommen wir morgens Ware vom Bahn-Service-Store vom Vortag. Es kann gut sein, dass wir insgesamt eher 400 Brötchen pro Tag ausgeben. Manchmal ruft auch das Hotel aus der Nachbarschaft an und spendet Lebensmittel.
Felicitas Kniesburges: Wir müssen die Ausgabe aber dennoch begrenzen: zwei belegte Brötchen und ein Stück Kuchen, damit alle etwas bekommen. Wir könnten also noch mehr gebrauchen.
Kommen Ihre Gäste regelmäßig? Oder gibt es auch viele, die nur einmal auftauchen?
Felicitas Kniesburges: Es gibt beides. Viele kommen täglich oder sehr regelmäßig. Andere tauchen plötzlich neu auf. Aktuell sehen wir viele neue Gesichter. Besonders ältere Menschen suchen hier Gemeinschaft und Kontakt; viele sind sehr einsam.
Stoßen Sie dabei an Grenzen - räumlich, finanziell oder personell?
Volker Hillebrand: Ja, absolut. Räumlich stoßen wir stark an Grenzen: Etwa 25 Menschen können gleichzeitig in unserem Gastraum sitzen.
Felicitas Kniesburges: Auch personell wären wir ohne die Ehrenamtlichen völlig überlastet. Die Bahnhofsmission lebt von ihrem Engagement. Ohne sie könnten wir drei Hauptamtlichen die Arbeit niemals stemmen. Wir haben derzeit etwa 35 Ehrenamtliche, davon rund 20 bis 22 aktive. Seit Kurzem haben wir auch einen kleinen Raum als Beratungszimmer eingerichtet, weil der Bedarf an vertraulichen Gesprächen groß ist - etwa bei Schulden, Wohnungslosigkeit oder Fragen zu Bürgergeld oder Dokumenten. Wir können dort beraten und an kompetente Stellen in unserem Netzwerk weiterverweisen. Dieser Raum wird sehr gut genutzt. Allerdings müssen wir deshalb die vorher dort gelagerte Winterbekleidung, die wir auch ausgeben, nun in unserem Vorbereitungsraum lagern.
Welche Rolle spielt die Spendenaktion zu Weihnachten im Jahresablauf?
Felicitas Kniesburges: Eine sehr große. Im Dezember bekommen wir viele Süßigkeiten - die sind hier extrem gefragt. Wir mussten die ersten Spenden an Spekulatius sogar verstecken, damit sie nicht sofort aufgegessen werden (lacht). Aber die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung ist wirklich beeindruckend.
Volker Hillebrand: Im Sommer bekommen wir Mineralwasser und Kaltgetränke, im Winter Kaffee, Tee, Kleidung und vieles mehr. Auch Geldspenden kommen regelmäßig rein. Manche rufen an und fragen, wohin sie etwas überweisen können; andere kommen direkt vorbei.
Im letzten Jahr haben Sie auch bei der Ausgabe der Weihnachtstaschen nach dem Adventsgottesdienst mitgewirkt. Wie haben Sie die Reaktionen erlebt?
Volker Hillebrand: Die Menschen sind überglücklich. Viele fragen schon früh im Jahr, ob es die Aktion wieder geben wird. Die Taschen bedeuten ihnen viel, besonders weil es an den Feiertagen kein warmes Essen gibt.
Felicitas Kniesburges: Wir haben uns gemeinsam mit dem Gasthaus, SKM und KIM, die alle Leistungen für Wohnungslose in Paderborn anbieten, zusammengesetzt und überlegt, wie wir die Menschen über die Feiertage versorgen können. Dieses Jahr bieten wir erstmals am ersten Weihnachtsfeiertag und an Neujahr nachmittags ein Kaffeetrinken in der Bahnhofsmission an. Am ersten Feiertag gibt es Kuchen von der Bäckerei Lange, an Neujahr Berliner. Heiligabend gibt es traditionell Kartoffelsalat mit Heißwürstchen, gespendet von einem Ehrenamtlichen. An Silvester gibt es Gulaschsuppe, gekocht von den Maltesern. In diesem Jahr gelingt es uns erstmals, wirklich jeden Tag über die Feiertage geöffnet zu haben.
Haben Sie den Eindruck, dass Sie hier in der Bahnhofsmission auch ein Stück Hoffnung vermitteln?
Felicitas Kniesburges: Ja, auf jeden Fall. Ich habe gelesen, was unser Paderborner Erzbischof anlässlich des Heiligen Jahres mit dem Motto "Pilger der Hoffnung", das Papst Franziskus ausgerufen hatte, dazu gesagt hat, und denke: Wenn wir auch nur ein kleines bisschen Hoffnung geben können, ist schon viel gewonnen. Dieses Gefühl habe ich hier sehr oft. Die Arbeit ist sinnvoll - das merke ich jeden Tag.
Ist das auch für Sie persönlich ein Gewinn?
Felicitas Kniesburges: Ja. Ich bin bereits Rentnerin und werde oft gefragt, warum ich jetzt noch die Leitung der Bahnhofsmission übernommen habe. Ich sage dann: Weil ich Freude daran habe. Ich glaube, meinen beiden Kollegen und den Ehrenamtlichen geht es genauso.
Volker Hillebrand: Jeder Tag ist anders, die Arbeit ist anstrengend, aber nicht zermürbend. Man muss natürlich darauf achten, dass man genügend Abstand hält, damit man die Sorgen der Menschen nicht zu sehr mit nach Hause nimmt.
Welche langfristigen Veränderungen wünschen Sie sich von Politik, Stadtgesellschaft oder Kirche?
Felicitas Kniesburges: Ich wünsche mir zuerst, dass meine beiden festangestellten Kollegen weiterhin hierbleiben können und Sicherheit haben - bisher werden ihre beiden Stellen von Jahr zu Jahr kurzfristig verlängert. Außerdem wünsche ich mir mehr Platz - auch wenn ich nicht weiß, wie das realisierbar sein soll - und vor allem eine verlässliche finanzielle Absicherung durch Stadt, Kommune, Kreis und Kirche, damit wir unsere Arbeit fortsetzen können.
Ein weiteres Anliegen ist eine zusätzliche Übernachtungsstelle, besonders für Frauen. Es gibt im Unterschied zu früher viele Frauen, die auf der Straße leben, und die vorhandenen Übernachtungsplätze sind alle belegt. Ich wünsche mir außerdem, dass Menschen nicht morgens sofort wieder auf die Straße geschickt werden, weil es zu wenige Orte gibt, an denen sie sich tagsüber aufhalten können.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Interview: Markus Jonas
Info
Die Bahnhofsmission Paderborn sucht zu Weihnachten 2025 120 engagierte Weihnachtspatinnen und -paten, die mit einer Spende in Höhe von 40 Euro für eine gut gefüllte Weihnachtstüte Gästen der Bahnhofsmission eine kleine Freude bereiten. In den Tüten befinden sich wichtige Alltagsartikel, Lebensmittel und kleine Aufmerksamkeiten, die besonders zur Weihnachtszeit ein Lichtblick sind. Verschenkt werden die gepackten Weihnachtstüten im Anschluss an einen ökumenischen Adventsgottesdienst in der Paderborner Herz-Jesu-Kirche am Donnerstag, 18. Dezember um 17 Uhr.
Spender sind herzlich eingeladen, an diesem Gottesdienst teilzunehmen.
Spendenkonto: IN VIA bei der Pax-Bank für Kirche & Caritas eG: IBAN DE69 3706 0193 1053 1950 04, Verwendungszweck Weihnachtspate