Nah, am nächsten, Nächstenliebe
"Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder (und Schwestern)." Dieser Satz aus dem Matthäus-Evangelium (Mt 23, 8) ist Ausdruck innerster christlicher Haltung. Wir als Christen sind auf Nächstenliebe ausgerichtet und diese Nächstenliebe bedeutet für uns, dass wir alle Schwestern und Brüder sind, unabhängig von Herkunft, Alter und Aussehen. Jeder Mensch hat seinen eigenen Wert.
So zumindest steht es im Evangelium. Aber leben wir auch danach?
Die Nachrichten des vergangenen und auch neu begonnen Jahres lesen sich anders:
Kriege, Flucht und Migration - Menschen, die unter widrigsten Umständen leben müssen. Wir leben in Zeiten, in denen Nächstenliebe und Geschwisterlichkeit an vielen Stellen fehlen.
Papst Franziskus entwirft in seinem dritten großen Lehrschreiben "Fratelli tutti" Leitlinien für eine gerechte und friedliche Gesellschaft und fordert, nationale und wirtschaftliche Interessen dem globalen Allgemeinwohl unterzuordnen.
Wie kann das gelingen?
Ein Blick auf die Kernbotschaften des christlichen Glaubens liefert hier bereits eine einfache Antwort: Wir alle sind verbunden durch unseren Glauben an einen einzigen Schöpfer, den wir sogar Abba, Vater nennen dürfen und sind damit Geschwister. Dabei ist gemäß Papst Franziskus die Religionsfreiheit ein entscheidender Beitrag zur Geschwisterlichkeit. So kann Religionsfreiheit einen gemeinsamen Raum der Zusammenarbeit schaffen. Er rät deutlich dazu, dass die Religionen auch mit jenen zusammenarbeiten, die keine religiösen Überzeugungen besäßen. So kann ein interreligiöser Dialog dazu beitragen, dass sich Glaubensgemeinschaften gemeinsam für eine gerechtere Welt einsetzen.
Zu den Kernbotschaften unseres Glaubens gehört zudem das Wissen, dass alle Menschen bedingungslos von Gott geliebt sind. In der Botschaft Jesu wird jederzeit deutlich, dass niemand ausgegrenzt werden darf.
Wenn wir uns unserer geschwisterlichen Verbundenheit aus dem Glauben, dem gemeinsamen Schicksal und der gleichen Würde und Rechte aller Menschen bewusst werden, kann eine soziale, geschwisterliche Gemeinschaft entstehen. Wenn wir unser Gegenüber nicht als Fremden, nicht als Feind, betrachten, sondern als Schwester oder Bruder, die Achtung und Respekt verdienen, dann ermöglichen wir eine Welt, die nicht in Gewalt und Krieg zerrissen ist.
Aber lässt sich das auch in die Praxis umsetzen?
Ich bin überzeugt, dass es zahlreiche gute Beispiele gibt. Gute Ansätze sehe ich in der Zusammenarbeit unseres Diözesan-Caritasverbandes mit der Caritas-Spes in der Ukraine. Schon seit den 90´er Jahren unterstützen wir die Kolleginnen und Kollegen vor Ort unter anderem beim Aufbau und Betrieb eines Kinderdorfes für Geschädigte der Katastrophe von Tschernobyl. Derzeit ist die Unterstützung ausgeweitet auf Hilfen für Binnenflüchtlinge und Opfer des Krieges. Als Kirche und Caritas im Erzbistum Paderborn unterstützen wir die Caritas Kaliningrad und die dort tätigen Ordensschwestern bei ihrem Einsatz für die Menschen. Auf diese Weise helfen wir Menschen in Not auf beiden Seiten der Front - ganz im Sinne des barmherzigen Samariters, der ohne Ansehen der Person geholfen hat. Es mag ein kleiner Beitrag zum Frieden sein, aber es ist ein gemeinschaftlicher Beitrag, der Kreise zieht. Viele weitere Beispiele der globalen Zusammenarbeit unseres Erzbistums ließen sich hier aufführen.
Schlussendlich gilt es für uns, eine Menschengemeinschaft zu sein, zu der sich alle zugehörig fühlen dürfen. Wo Solidarität zu finden ist, ist kein Platz mehr für Ungerechtigkeiten. Hier liegt meines Erachtens die große Chance und auch der Auftrag einer global vernetzen und agierenden (Welt-) Kirche.
Aber auch die Natur benötigt mehr denn je unsere Solidarität. Wir Menschen sind nur ein kleiner Teil der Schöpfung und stehen mit ihr in wechselseitiger Abhängigkeit.
Und so können wir lernen aus dem Sonnengesang des heiligen Franziskus, der alle Menschen, Tiere, Pflanzen und Gestirne als Bruder und Schwester beschreibt und zur Geschwisterlichkeit aufruft:
"Gelobt seist du, mein Herr,
mit allen deinen Geschöpfen,
zumal dem Herrn Bruder Sonne,
welcher der Tag ist und durch den du uns leuchtest. […]
Gelobt seist du, mein Herr,
durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt
und vielfältige Früchte hervorbringt
und bunte Blumen und Kräuter."
Ihr Ralf Nolte, Diözesan-Caritasdirektor
Text zuerst erschienen in der Mitarbeitendenzeitung des Erzbistum "wirzeit" (März 2023)