Gedankenexperiment...
crisfotolux -stock.adobe.com
Stellen Sie sich vor: Sie können eine neue Gesellschaft gestalten, in der Sie leben wollen. Diese Möglichkeit gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Sie nicht wissen, als was oder wer Sie in dieser Gesellschaft leben würden, dass Sie nicht wissen, an welcher Stelle Sie sich später befinden werden. Sie sind unter einem "Schleier des Nichtwissens".
Stellen Sie sich diese neue Gesellschaft möglichst anschaulich vor. Reflektieren Sie dann für sich, ob Sie sich vorstellen können, z. B. als Gehörloser oder als Jüdin, als Flüchtling, als Arbeitsloser oder als Transsexueller in ihrer eigenen Gesellschaft zu leben.
Das Experiment setzt voraus, dass Menschen über genügend Vorstellungskraft und die Fähigkeit verfügen, um sich in die Bedürfnisse und Nöte anderer hineinzudenken. Auf diese Weise sind sie gezwungen, sich vorzustellen, eventuell in einer Gesellschaft leben zu müssen, in der keine Rücksicht genommen wird auf unterschiedliche Bedürfnisse, Nöte und Identitäten.
Wenn es darum geht, über eine zukünftige Gesellschaftsordnung zu entscheiden und die politische und gesellschaftliche Ordnung so einzurichten, dass sie auch für jeden in jeder gesellschaftlichen politischen Rolle und in jeder Lebenslage gerecht wäre, müssen wir lernen, bestimmte Faktoren außer Acht zu lassen.
Gesellschaften müssen so gestaltet werden, dass egal ist, welche Hautfarbe, welche Ethnie, welches Geschlecht, welche Religionszugehörigkeit, welche Intelligenz und welche Kraft jemand hat. Auch dürfen dabei die Stellung innerhalb der Gesellschaft, der soziale Status, der materielle Besitz und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation keine Rolle spielen.
Info zu John Rawls
Der amerikanische Sozialphilosoph John Rawls entwickelte 1971 in seiner Theorie der Gerechtigkeit das Instrument des sogenannten "Schleiers des Nichtwissens". John Rawls brachte mit seiner Theorie das Thema Gerechtigkeit in die wirtschaftspolitische Auseinandersetzung ein. Der Staat hat laut Rawls die Aufgabe, mit jeder Politikentscheidung den Nutzen für den am schlechtesten Gestellten in einer Gesellschaft zu steigern. Er nannte das die "Maximin-Regel". Rawls’ Theorie zielt nicht auf die Nivellierung aller Einkommens- und Vermögensunterschiede. Eine soziale und ökonomische Ungleichheit ist nach Rawls durchaus in Ordnung - unter einer Bedingung: Sie muss "zum größten zu erwartenden Vorteil für die am wenigsten Begünstigten" beitragen.