Als "völlig unverhältnismäßig" kritisiert der Diözesan-Caritasverband Paderborn die hohe Zahl der Sanktionen der Jobcenter gegen Hartz-IV-Bezieher wegen geringfügiger Verstöße. Anlass ist die Veröffentlichung des aktuellen Arbeitslosenreports der Freien Wohlfahrtspflege in NRW. Schon wer beim Jobcenter einen Termin verpasst, bekommt weniger Geld. Mehr als 78 Prozent der Sanktionen in NRW wie auch in den Kommunen und Kreisen im Erzbistum Paderborn sind auf solche Meldeversäumnisse zurückzuführen. "Das stürzt die Menschen nur noch tiefer in Not", kritisiert Josef Lüttig, Diözesan-Caritasdirektor des Caritasverbandes für das Erzbistum Paderborn und Vorsitzender des Arbeitsausschusses Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege in NRW.
#In der Debatte um die Sanktionierung von Hartz-IV-Beziehern hat die Freie Wohlfahrtspflege NRW erstmals Zahlen für Nordrhein-Westfalen ausgewertet. In ganz NRW sind 78,2 Prozent der rund 220.000 neu ausgesprochenen Sanktionen im Jahr 2017 auf Meldeversäumnisse beim Jobcenter zurückzuführen. Die gleiche Tendenz ist auch in den Kommunen und Kreisen im Erzbistum Paderborn festzustellen: Rund 78,4 Prozent der Sanktionen erfolgte, weil vom Jobcenter angeordnete Termine nicht eingehalten wurden. Nur etwa 7,5 Prozent der Maßregelungen wurden ausgesprochen, weil sich die Betroffenen weigerten, eine Arbeit, Ausbildung oder Qualifizierungsmaßnahme aufzunehmen oder fortzuführen. "Gemessen an der Schwere der Verstöße sind Höhe und Umfang der Leistungskürzungen völlig unverhältnismäßig", kritisiert Josef Lüttig.
Franz-Josef Strzalka, der im Arbeitslosenzentrum in Herne täglich mit Menschen zu tun hat, die von Sanktionen der Jobcenter bedroht oder betroffen sind, sieht das ähnlich: "Die bestehenden Strafen sind nicht akzeptabel und viel zu heftig", sagt er. Kürzungen um bis zu 60 Prozent könne niemand verkraften. "So werden Menschen ins Elend gestürzt. Selbst die Zahlung für die Miete wird gekürzt oder ganz gestrichen. Oftmals droht dann Wohnungslosigkeit." Dabei solle Hartz IV doch das Lebens-Minimum garantieren, gibt Strzalka zu bedenken. "Ein Minimum darf man aber nicht kürzen, das Grundrecht auf Existenzsicherung muss immer gelten." Franz-Josef Strzalka hält Sanktionen insgesamt für "überflüssig": "Es fehlt nicht an der Arbeitsbereitschaft der Erwerbslosen, es fehlen massenhaft gute und für die Zielgruppe passende Arbeitsplätze."
Darüber hinaus kritisiert Diözesan-Caritasdirektor Josef Lüttig, dass viele Hartz-IV-Bezieher, die sanktioniert werden, von psychischen Beeinträchtigungen, Suchterkrankungen, funktionalem Analphabetismus oder interkulturellen Verständigungsschwierigkeiten betroffen sind. Durch die harten Sanktionen werde selten das Ziel erreicht, die Betroffenen zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Jobcenter zu bewegen und sie auf den Arbeitsmarkt zu bringen. "Beeinträchtigte Hartz-IV-Bezieher benötigen Beratung und Unterstützung, die Rücksicht auf ihre persönliche Situation nimmt", sagt Lüttig.
Überdurchschnittlich stark von Sanktionen betroffen sind Hartz-IV-Bezieher unter 25 Jahren, bei denen es gesetzlich erlaubt ist, bereits beim ersten Verstoß Leistungen soweit zu kürzen, dass nur noch die Kosten für Unterkunft und Heizung gedeckt sind. So wurde beispielsweise in Herne Hartz-IV-Beziehern unter 25 Jahren im Jahr 2017 die monatliche Gesamtregelleistung durchschnittlich um 187,27 Euro gekürzt. Die besonders drastischen Sanktionen für Jugendliche führen dazu, dass viele Jugendliche den Kontakt zum Jobcenter abbrechen und in soziale Isolation, Kleinkriminalität oder Suchtmittelkonsum abtauchen.
"Die scharfen Sanktionsregelungen für unter 25-Jährige müssen abgeschafft werden, damit nicht noch mehr junge Menschen verloren gehen", fordert Josef Lüttig als Vorsitzender des Arbeitsausschusses Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege in NRW. Zudem bestehen große Zweifel, ob die Kürzung des Arbeitslosengeldes II mit dem Grundgesetz überhaupt vereinbar ist. Das prüft derzeit das Bundesverfassungsgericht. Noch für das laufende Jahr 2018 hat es ein Urteil angekündigt, das die Freie Wohlfahrtspflege NRW mit Spannung erwartet. Die Grundsicherung sei mehr als eine arbeitsmarktpolitische Leistung, betont Lüttig. "Sie umfasst das, was ein Mensch unbedingt zum Leben braucht. Dabei steht die durch das Grundgesetz geschützte Würde des Menschen auf dem Spiel."
(Zahlen zu den meisten Kreisen und kreisfreien Städten in NRW unter www.arbeitslosenreport-nrw.de)
Hintergrund "Arbeitslosenreport NRW":
Die Wohlfahrtsverbände in NRW veröffentlichen mehrmals jährlich den "Arbeitslosenreport NRW". Basis sind Daten der offiziellen Arbeitsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit. Hinzu kommen Kennzahlen zu Unterbeschäftigung, Langzeitarbeitslosigkeit und zur Zahl der Personen in Bedarfsgemeinschaften, um längerfristige Entwicklungen sichtbar zu machen. Der Arbeitslosenreport NRW sowie übersichtliche Datenblätter mit regionalen Zahlen können im Internet unter www.arbeitslosenreport-nrw.de heruntergeladen werden. Der Arbeitslosenreport NRW ist ein Kooperationsprojekt der Freien Wohlfahrtspflege NRW mit dem Institut für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) der Hochschule Koblenz.
In der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege NRW haben sich 16 Spitzenverbände in sechs Verbandsgruppen zusammengeschlossen. Mit ihren Einrichtungen und Diensten bieten sie eine flächendeckende Infrastruktur der Unterstützung für alle, vor allem aber für benachteiligte und hilfebedürftige Menschen an.