Seismografen für den Zustand dieser Gesellschaft
„Hier ist kein Tag wie der andere.“ Daniel Gockel genießt ein spannendes ehrenamtliches Engagement (Foto: Sauer)
Zugegeben, es gibt idyllischere Orte für ein soziales Ehrenamt als das Kellergeschoss des Hauptbahnhofs Bielefeld. Doch Daniel Gockel (31) möchten diesen Ort nicht missen. Seit 2008 engagiert er sich ehrenamtlich bei der von Diakonie und Caritas getragenen Bahnhofsmission, inzwischen sogar mehrmals in der Woche. Fast 30 Ehrenamtliche sind im Einsatz in diesem traditionsreichen Arbeitsfeld, das es in Deutschland seit über 120 Jahren gibt. Gebraucht werden Bahnhofsmissionen mehr denn je, denn trotz aller Versuche, Bahnhöfe als Shopping-Zentren oder Schlemmer-Adressen zu positionieren, lässt sich das Publikum nicht steuern. Von schwerreich bis bitterarm - alle Milieus kommen in und an Bahnhöfen zusammen.
"Als ich hier anfing, hatten wir 80 bis 90 Hilfesuchende am Tag, in diesem Jahr liegt der Rekord bei 140 Personen", erzählt Daniel Gockel. Wenn es für gerade den Anstieg von Wohnungslosigkeit einen Seismografen gibt, dann sind das nach wie vor Großstadtbahnhöfe. Auch in Bielefeld geht es heute zu wie im Taubenschlag. "Habt ihr auch ´was mit Käse?" Die beiden hungrigen Obdachlosen zeigen auf den Berg geschmierter Baguette-Stücke. Klar, auch Käse ist im Angebot, so wie Paletten voller Instant-Suppenbecher, die gerade jetzt im Winter reißenden Absatz finden. "Ich komme wegen der Kleiderspende, ich hatte ja angerufen." Die junge Dame, die als nächstes vor dem Tresen des Büros steht, hat einige Tüten mit warmen Textilien dabei - auch diese Spenden sind begehrt, auch wenn aufgrund des beengten Platzangebotes eher auf Kleiderkammern in der Stadt verwiesen wird. Bei den aktuellen Minustemperaturen ist allerdings Soforthilfe angesagt.
Eigentlich wird hier ständig irgendjemandem geholfen - und zwar nicht nur der "klassischen Klientel", was laut Statistik überwiegend alkoholabhängige, oft wohnungslose Männer ab 35 Jahren sind. Dank Zugang zum Intranet der Deutschen Bahn können auch detaillierte Auskünfte, z B über Verspätungen und Anschlüsse gegeben werden. Die Bahn ist dankbar, dass die Bahnhofsmission hilflose oder auf Betreuung angewiesene Reisenden an den Gleisen in Empfang nimmt. Auch die Bundespolizei schätzt die Mithilfe der Mitarbeiter bei der Suche nach vermissten Personen; deren Beschreibung pappen auf Klebeschildern am Tresen. "Hier ist kein Tag wie der andere", sagt Daniel Gockel, und gerade dies macht das Ehrenamt spannend.
Damit niemand ins kalte Wasser geworfen wird, bietet die Bahnhofsmission regelmäßig Fortbildungen an. Auch die Vernetzung mit professionellen sozialen Diensten ist selbstverständlich. Vielleicht ist es das Gefühl, Menschen unmittelbar helfen zu können, was das Engagement an diesem Ort so befriedigend macht. Da ist die Frau, die von der Bundespolizei gebracht wurde, weil ihr am Bahnsteig übel geworden war und die sich am nächsten Tag bei der Bahnhofsmission bedankte, weil sie so liebevoll versorgt wurde. Da ist aber auch der Obdachlose, dessen Leben eine komplette Kehrtwende genommen hatte, weil Daniel Gockel ihn an eine Beratungsstelle verwiesen hatte. Genau die hat im geholfen, wieder die Freiheit eines suchtfreien Lebens genießen zu können. "Der Mann hat sich später bei mir bedankt. Das war schon ein tolles Gefühl."